Lauschbar 42 19. Oktober 2008

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Booka Shade: The Sun & The Neon Light (Get Physical) 23.5.2008
Walter Merziger und Arno Kammermeier aus Frankfurt am Main begannen ihre musikalische Karriere Anfang der 90er mit dem Synthie-Pop-Duo Planet Claire, konvertierten dann aber zum House-Techno-Trance. Ende der 90er gründeten sie das Label Get Physical als Platform für Club-taugliche elektronische Musik. Waren sie dort zunächst eher im Hintergrund als Produzenten und Remixer (u.a. Moby und Depeche Mode) tätig, so änderte sich das, als sie 2004 als Duo Booka Shade mit dem Debüt-Album "Memento" ins Rampenlicht traten. 2006 folgte "Movements", auf dem auch ihr bislang größter Club-Hit/Erfolg "Body Language" enthalten war.
Das nun vorliegende 3. Album ist weniger für den Club-Dancefloor gedacht, sondern präsentiert sich als ein recht reifes Konzept-Album über das Leben in der (Groß)Stadt und über die (elektronische) Club-Kultur. Zwar gibt es auch ein paar ordentliche technoid-pumpende Stücke, die Mehrheit stellen jedoch die eher ruhigen, atmosphärischen Stücke, bei denen die Altmeister der elektronischen Musik wie z.B. Tangerine Dream grüßen lassen. Neben dem üblichen elektronischen Equipment und Computer gibt es auch echte Streicher und Gitarren sowie Walter Merziger am Gesang zu hören.
Wer eher am Dancefloor interessiert ist, sollte zur limitierten Edition greifen, denn die enthält eine zusätzliche CD mit Remixen.
  ↑  Santogold: Santogold (Lizard King) 9.5.2008
Die 32-jährige US-amerikanische Songwriterin und Sängerin mit dem bürgerlichen Namen Santi White studierte zunächst Musik und arbeitete dann bei einem Musiklabel, bevor sie 2003 in der New Wave Punk-Band Stiffed ihre musikalische Laufbahn begann. Seit dem letzten Jahr betreibt sie nun zusammen mit dem ehemaligen Bandkollegen John Hill als musikalischem Partner das Projekt Santogold, in das sie all ihre musikalischen Einflüsse und Geschmäcker einbringt. Und so ist ihr Debüt ein schrill-bunter und zum großen Teil sehr tanzbarer Cocktail aus BreakBeats, Rock, New Wave, Dub, Reggae, Dancehall und Electro. Das ist teilweise zwar ganz schön durchgeknallt, wird jedoch immer durch einprägsame Melodien und ihre charismatische, teilweise an Siouxie and the Banshees erinnernde Stimme in Balance gehalten.
  ↑  Herbaliser: Same As It Never Was (!K7) 23.5.2008
Den Titel des 6. Studio-Albums des 1992 von den beiden Londonern Ollie Teeba und Jake Wherry gegründeten Projektes kann man durchaus als Hinweis verstehen, dass zwar vieles ähnlich ist im Vergleich zu den Vorgängeralben (s.a. Archiv), aber eben nicht alles: nachwievor integrieren sie auf gekonnte Weise Soul-Jazz-Funk im Stile der 70er und Oldschool-HipHop im Geiste der 80er mit modernen und trippigen elektronischen Beats und Samples. Bei den Vocals hat sich der Schwerpunkt vom Rap nun aber hin zum Soul verlagert. Ausserdem gibt es weniger Samples und Soundtüfteleien, dafür mehr geradlinige Beats mit dem Drang zum Dancefloor. Dies ist wohl ihr bislang tanzbarstes Album (womit auch der Wechsel vom eher experimentellen Label Ninja Tune zum eher Dance-orientierten Label !K7 Sinn macht). Der Wandel des Soundbildes hat auch damit zu tun, dass sich Herbaliser jetzt als richtige Band verstehen, u.a. mit fester Sängerin namens Jessica Darling, die auf 5 Stücken für die Soul-Vocals verantwortlich ist (von denen 2 aber zu den eher schwächeren Stücken des Albums zählen).
Fans der ersten Stunde werden ob dieses Wandels vielleicht nicht ganz glücklich sein, dürfen sich aber dennoch über ein paar Schmankerl im alten Stil freuen (z.B. das verrückte Instrumental "Blackwater Drive" oder das gerappte "Game Set And Match", das mit Balkan-Beats aufwartet). Dafür dürften aber neue Fans aus dem Lager derjenigen hinzukommen, die auf die aktuelle Soul-Welle a la Amy Winehouse abfahren.
  ↑  Nneka: No Longer At Ease (Yo Mama/Sony) 25.4.2008
Die 27-Jährige wuchs als Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen in Nigeria auf. Mit 19 siedelte sie nach Hamburg über, holte dort ihr Abitur nach und begann ein Studium, bevor sie 2003 in Zusammenarbeit mit DJ Farhot ihre musikalische Karriere begann, die 2006 zum Debüt-Album "Victim Of Truth" und Auftritten im Vorprogramm von Patrice, Sean Paul, Seeed und Gnarls Barkley führte. Ihr nun vorliegendes zweites Album enthält eine eigenständige und abwechslungsreiche Mischung aus Soul, Reggae, Dub, Break Beats und Afrobeat mit Singer/Songwriter-Appeal. Obwohl das über eine Stunde (!) dauernde Album über weite Strecken einen schönen Groove aufweist, ist es doch alles andere als eine kuschlige Wohlfühl- oder gar Party-Platte, denn ihre Songs thematisieren neben privaten Problemen vor allem auch die prekäre Lage in Afrika.
  ↑  Orishas: Cosita Buena (EMI) 30.5.2008
Die Band, die Ende der 90er von Exil-Kubanern in Paris gegründet wurde, und die sich nach den Gottheiten der auf Kuba praktizierten afrokubanishen Santeria-Religion benannt hat, vermischt auf ihrem 4. Studioalbum gekonnt spanisch-sprachigen Rap mit kubanischer Folklore und Rhythmik (Son, Guajira) sowie Salsa, als auch mit westlichem Rock/Pop und jazzigen Bläser-Vibes. Auch textlich bleiben sie ihrer Heimatinsel verbunden, indem sie das Geschehen dort thematisieren. 2 Rapper wechseln sich beständig mit einem Sänger ab. Letzter verleiht den Stücken zuweilen eine etwas süßliche bis weinerliche Note, die aber zum Glück durch die anderen genannten Zutaten nicht so aufdringlich ist.
  ↑  Atmosphere: When Life Gives You Lemons ... (Rhymesayers / Rough Trade) 18.4.2008
Es kommt ja selten vor, daß mir eine HipHop-Platte als Ganzes sehr gut gefällt. In der Regel sind das dann Platten, die nichts mit oberflächlichem Charts-HipHop oder protzigem Gangsta-Rap zu tun haben. So auch das warmherzige fünfte Studio-Album des seit 10 Jahren bestehenden Projektes aus Minnesota um Rapper Slug und Produzent Ant. Die Kompositionen und Instrumentierungen, die ein breites stilistisches Spektrum abdecken von Jazz, Funk, Gospel über TripHop bis Rock, sind bewusst einfach gehalten und verzichten auf Bombast und Soundtüftelei. Stattdessen wird abwechselnd ein bestimmtes Instrument, sei es ein Piano, eine Gitarre, die Flöte (!) oder der Synthesizer, und eine einfache Melodie oder ein markanter Beat in den musikalischen Mittelpunkt gesetzt, um den herum Slug in lockerem und auch für den Laien verständlichen Sprechgesang seine Geschichten aus dem Leben und von den Träumen vornehmlich von Verlierern der Gesellschaft erzählt. Die Thematik bedingt, dass die Stücke zum großen Teil weniger für eine Party taugen, aber neben ein paar wunderschönen Balladen gibt es schon auch einige Stücke, zu denen man relaxt den Fuß mitwippen oder andächtig den Kopf mitnicken kann.
  ↑  Various Artists: Russendisko Hits 3 – Ukraine do Amerika (Russendisko/BuschFunk) 20.6.2008
Wladimir Kaminer hat sich als Schriftsteller witzig-ironischer Geschichten in den letzten Jahren einen guten Namen gemacht, zu erleben auch im vergangenen Herbst auf einer Lesung im Audimax an der TU Ilmenau. Zusammen mit Yuriy Gurzhy heizt er auch schon seit einigen Jahren im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Russendisko" im Berliner Kaffee Burger dem Publikum mit beschwingter Musik von Bands ein, die eine lustige Mischung aus Rock, Punk, Ska, Reggae und Latin sowie osteuropäischer und jüdischer Folklore zelebrieren. Alle paar Jahre lassen die beiden auch die Nicht-Berliner in Gestalt von Samplern mit ausgewählten und Tanzboden-bewährten Tracks aus ihren DJ-Sets an diesen Events teilhaben. Auf dem vorliegenden 3. Teil der Sampler-Reihe beschränken sie sich auf Bands, die auf ukrainisch singen (und zum großen Teil auch aus der Ukraine kommen). Nach Meinung der beiden haben sich die ukrainischen Bands noch mehr als die russischen, die schon eher vom westlichen Rock beeinflusst sind, ihre nationalen Eigenarten bewahrt, wodurch ihre Musik noch eigenständiger und erfrischender klingt. Letzteres ist besonders eindrucksvoll im Track 6 von der Band Konsonans Retro zu hören, in dem alleine ein mehrstimmiger Männerchor und ein Akkordeon einen treibenden Groove erzeugen.
Leider enthält das Booklet, wie noch bei den beiden Vorgängern, keine Infos zu den Bands. Die muss man sich im Internet besorgen, und erfährt dabei z.B., daß es sich bei Chornobryvtsy (Track 7) um Afrikaner handelt, die in Kiew studieren, und bei RotFront (Track 11) um eine Band aus Berlin, in der Yuriy Gurzhy selber auch mitmacht.
  ↑  Peter Licht: Melancholie und Gesellschaft (Motor) 5.9.2008
Der in Köln unter dem Pseudonym PeterLicht lebende Autor und Songwriter, der wenig über sein wahres und privates Leben preisgibt und sich auch auf Fotos nicht ablichten lässt, präsentiert sich auf seinem neuen Album als ein gereifter und talentierter Songwriter. Seine, vornehmlich auf dem Piano vorgetragenen eingängigen Melodien werden stilvoll mit luftigen Gitarrenparts und sanften Streicherpassagen verfeinert. So, ohne größere Ecken und Kanten, und mittels seiner angenehmen Stimme, schmeicheln sich die Lieder leicht ins Ohr und lenken nicht von den Texten ab, die das eigentlich Besondere an PeterLicht ausmachen. Mal grüblerisch, mal witzig-ironisch, und oft beeindruckend wortakrobatisch, setzt er sich auf subtile Weise mit dem Zustand unserer Gesellschaft auseinander. Trotz aller dabei aufkommender Melancholie (s. Titel), läßt er jedoch immer auch eine Spur Optimismus durchscheinen.
  ↑  Madrugada: Madrugada (Malabar) 9.5.2008
Das 5. Studioalbum der norwegischen Band, deren Schaffen ich seit dem famosen Debüt "Industrial Silence" (2000) mit großer Sympathie verfolge, enstand unter tragischen Umständen, denn während der Aufnahmen zu dem Album wurde Gitarrist und Songwriter Robert Buras tot in seiner Wohnung aufgefunden. Die verbliebenen Bandmitglieder entschieden sich nach reiflicher Überlegung, das (wahrscheinlich letzte) Album fertigzustellen, da die Aufnahmen schon weit fortgeschritten waren und Robert einen großen Anteil an deren Entstehung hatte.
Trotz, oder vielleicht auch wegen dieser Umstände, ist das wohl kompakteste und stimmigste Album der Band entstanden, auf dem der Stil der Band – melancholisch-kraftvoller Southern- und Indie-Rock mit Americana-Einflüssen und psychedelischem Touch – perfektioniert wurde. Es beginnt mit 3 rockigeren Songs, denen 3 wunderschöne und ergreifende ruhigere folgen, bei denen die Gänsehaut-Stimme von Sänger Sivert Hoyem besonders gut zur Geltung kommt. Nach weiteren 2 eher psychedelisch angehauchten Stücken wird die Platte mit einem Song beschlossen, auf dem alleine Robert Buras am Gesang (erstmals auf einem Studioalbum) und Gitarre zu hören ist. Zwar hat seine Stimme nicht die Klasse von Hoyem, aber diese posthume Ehrerbietung durch seine Bandkollegen geht doch auch ziemlich unter die Haut.
  ↑  Russian Circles: Station (Suicide Squeeze) 6.6.2008
Das zweite Album der seit 2004 bestehenden Band aus Chicago, deren Name an eine Trainingsform im Hockey angelehnt ist, liegt stilistisch zwischen Post-Rock der Marke Explosions In The Sky und Post-Metal a la Pelican und Isis. Leisere Passagen mit flirrenden und melodischen Gitarrenläufen wechseln mit lauten, in denen Metall-Riffs, dröhnender Bass und wuchtige Drums eine bedrohlich-faszinierende Athmosphäre erschaffen. Durch diese Wechsel, die zudem oft unvermutet stattfinden, wird eine angenehme Spannung aufgebaut. Dabei kommen die Stücke ganz ohne Gesang aus und die Band lässt ihnen die nötige Zeit (so um die 7 Minuten) zu ihrer Entfaltung, ohne dass sie jedoch ausufern.
Ein Album von großer (Anziehungs)Kraft, das man am besten unter Kopfhörer und/oder mit ordentlicher Lautstärke hören sollte, um die große Dynamik genießen zu können. Auch sollte man die Platte als Ganzes hören, denn nur so erschließt sie sich als Gesamtkunstwerk, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Stücke ineinander übergehen oder unmittelbar aneinander anschließen.
Ein Muß für Fans der o.g. Bands, aber auch für Freunde des Prog-Rock a la Tool wärmstens zu empfehlen.
  ↑  Hellsongs: Hymns In The Key Of 666 (Bodog/Soulfood) 27.6.2008
Ein schwedisches Trio aus Göteborg, das Hard-Rock- und Heavy-Metal-Klassiker aus den 70ern und 80ern (u.a. von Iron Maiden, Slayer, Metallica und Black Sabbath) covert und in ein entrücktes Indie-Folk-Pop-Gewand kleidet ?! Was sich auf den ersten Blick eher wie ein Gag anhört, hat durchaus ernstgemeinte künstlerische Substanz: man muss schon von Neuinterpretationen (anstelle von Covern) sprechen, denn ohne harte Gitarrenriffs, polternde Drums und kraftvollen Männergesang, und stattdessen mit akustischer Gitarre, Klavier, Streichern und mädchenhafter Frauenstimme vorgetragen, sind die Originale kaum wiederzuerkennen. Dieser musikalische Ansatz rückt die Texte, die in den Originalen eher eine untergeordnete Rolle spielen, mehr in den Vordergrund. Lobenswerter hat man bei der Auswahl der Stücke darauf geachtet, dass diese keine sexistischen oder kriegsverherrlichenden Texte besitzen.
Musikalisch und stimmlich mit Anna Ternheim vergleichbar.
  ↑  Anne Clark: The Smallest Acts Of Kindness (netMusicZone) 26.9.2008
Die Londoner Pianistin und Poetin gehörte Anfang der 80er zu den Protagonisten und Aushängeschildern der New Wave & Dark Wave-Szene. (Zu ihrem 84er Hit "Our Darkness" wird auch heute noch im <bc>-Club gerne getanzt :-). Ihr Markenzeichen war (und ist) ihr klarer und charismatischer Sprechgesang, mit dem sie ihre Gedichte oder die anderer Poeten eher rezitiert, denn singt. Basierten ihre Stücke in den 80ern noch vorwiegend auf einem elektronischen musikalischen Fundament, so integrierte sie ab den 90ern zunehmend auch akustische Einflüsse aus Folk und Klassik. 1996 erschien ihr bislang letztes Studio-Album "Just After Sunset" mit Vertonungen von Gedichten Rainer Maria Rilkes. In den folgenden Jahren beschränkte sie sich auf Mitarbeit in diversen Projekten sowie auf Live-Auftritte. Ein großer Teil der Stücke auf dem nun vorliegenden Album enstammt aus den Live-Sets der vergangenen Jahre und wurde mit ihrer aktuellen Live-Band im Studio neu eingespielt.
Das Album zeigt alle Facetten ihres bisherigen Schaffens: es beginnt mit einem pumpenden TripHop-artigen Stück. Diesem folgen eine Reihe wunderschöner ruhiger, akustisch instrumentierter Songs, bevor das Album im letzten Drittel tempomäßig noch mal Fahrt aufnimmt und ein paar ordentliche Electro-Dancefloor-Stücke aufbietet. Ihre Texte handeln dabei sowohl von großen Themen wie Religionskritik und der Ölkrise als auch von alltäglichen menschlichen Schwächen und Ängsten.