Lauschbar 46 18. Oktober 2009

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Crippled Black Phoenix: 200 Tons Of Bad Luck (Invada/Cargo) 24.4.2009
Beim Hören der ersten 3 Stücke, die alleine schon mit 33 Minuten knapp die Hälfte des 2. Albums des britischen Projekts ausmachen, greift man unwillkürlich zum Booklet, um nachzuschauen, ob da irgendein Mitglied von Pink Floyd die Finger mit im Spiel hat, denn die 3 Stücke bieten so einige Pink Floyd-Zitate: Das erste Stück beginnt mit sphärischen Keyboards wie in "Shine On You Crazy Diamond", das zweite Stück mit einem genialen Groove wie in "One Of These Days" vom Album "Meddle", und der dritte Teil des 18-minütigen 3. Stücks eröffnet mit einer Reminiszenz an "Pigs" von "Animals". Nachweislich ist aber keiner der Pink Floyd-Mitglieder im Bunde, vielmehr handelt es sich um ein Musikerkollektiv um den Multi-Instrumentalisten Justin Greaves, dessen Mitglieder auch noch in anderen Bands mitmischen, z.B. der Bassist von Mogwai.
Nach den genialen ersten 3 Stücken, die das Herz jedes Prog-Rock-Fans höher schlagen lassen, zerfasert das Album stilistisch etwas mit Tendenz zum melancholischen Indie-Rock, bevor mit den letzten beiden Stücken wieder in die Prog-Rock-Spur zurückgefunden wird.
Aufgrund der Länge und der sich durchziehenden Schwermut – die Band bezeichnet ihre Musik selber als Endzeit-Balladen - ist das Album sicher keine leichte Kost, bietet dem geneigten Hörer aber ein exzellentes Kopfkino.
  ↑  Long Distance Calling: Avoid The Light (Superball/SPV) 24.4.2009
Seit 1, 2 Jahren bringen einige Bands frischen Wind in das zuvor doch etwas auf ausgetretenen Pfaden dahinwandelne Post-Rock-Genre, indem sie es mit Elementen aus Prog Rock, Psych Rock und auch Metal anreichern bzw. kreuzen. An dieser Stelle wurden in dieser Richtung bereits die letzten Platten von Russian Circles, Leech und From Monument To Masses vorgestellt. Das Quintett aus Münster setzt mit ihrem 2. Album diesen Trend fort, und alle Freunde der oben genannten Bands werden definitiv auch an dieser Gefallen finden.
Im Gegensatz zu alten Post-Rock-Größen wie Mogwai setzen LDC nicht auf einen langwierigen Spannungs- und Stimmungsaufbau, sondern auf den Wechsel von filigranen, atmosphärischen Passagen aus ambienten Keybord-Sounds und zauberhaften Gitarrenfiguren einerseits, mit druckvollen, lauten Passagen und knackigen Gitarren-Riffs auf der anderen Seite.
Die 6 Stücke des Album haben stattliche Längen von 7 bis 12 Minuten und sind bis auf "The Nearing Grave", dem Jonas Renske, Sänger von Katatonia, seine charismatische Stimme leiht, alle rein instrumental. Sehr schönes Artwork inklusive.
Ein Album von hynotischer Sogwirkung!
  ↑  The Dead Weather: Horehound (Third Man/Sony) 10.7.2009
Sogenannte Supergroups konnten mich in der Vergangenheit meistens nicht wirklich begeistern. In dem vorliegenden Fall ist das aber anders, denn die 4 beteiligten Musiker - Sängerin Alison Mosshart (The Kills), Gitarrist Dean Fertita (Queens Of The Stoneage), Bassist Jack Lawrence (The Raconteurs) sowie Drummer (!) Jack White (The White Stripes, The Raconteurs) - agieren nicht als Ensemble von Einzelkönnern, sondern als harmonische Einheit, die den geneigten Hörer mit herrlich knarzigem und schwer groovendem, psychedelisch angehauchtem Blues-Rock begeistern. Auch wenn produktionstechnisch auf der Höhe der Zeit: die Band schert sich nicht um den Zeitgeist, sondern suhlt sich lieber im Erbe des Psych-Blues-Rock Ende der 60er, Anfang der 70er (Cream, Velvet Underground, Ten Years After). Neben den satt-fiesen Gitarrenriffs und dem scheppernden Drumming lebt das Album vor allem von der verruchten, mal fauchenden, mal röhrenden Stimme Mossharts, die hier ansatzweise in die Fußtapfen von Janis Joplin tritt.
Das Projekt ist übrigens eher ein Zufallsprodukt, zu dessem Idee es kam, nachdem Mosshart während einer Raconteurs-Tour als Gesang-Ersatz für White einsprang, als jenem die Stimme versagte.
  ↑  Arctic Monkeys: Humbug (Domino) 21.8.2009
Die 4 Jungs aus Sheffield sind erwachsen geworden: statt rebellischen und hyperaktiven Indie-Rock zelebrieren sie auf ihrem dritten Album nun gut abgehangenen Wüsten-Rock. Mit der Abkehr von ihrem bisherigen und so erfolgreichen Stil, insbesondere von ihrem Debüt aus dem Jahre 2006 mit dem Hit "I Bet You Look Good on the Dancefloor", gehen sie einen mutigen Schritt, denn den einen oder anderen Fan dürfte der neue Stil doch etwas abschrecken. Auf der anderen Seite umgehen sie damit auch geschickt überhöhte Erwartungen an das "verflixte" dritte Album. Produziert wurde es u.a. von Josh Homme von Queens Of The Stone Age. Und so schimmert hier und da tatsächlich etwas Stoner und Psychedelic Rock durch. Auch die Arbeit von Sänger Alex Turner mit seinem Nebenprojekt The Last Shadow Puppets (LB 41) zeigt Wirkung in Gestalt von Spaghetti-Western-Sound und Sixtie-Pop-Anleihen.
Die Songs klingen alle sehr durchdacht, aber auch nicht zu sehr vergeistigt. Ausnahme ist "Pretty Visitors", das als einziger Song noch an den rotzigen Stil des Debüts erinnert. Insgesamt ein echtes Grower-Album, das man mit jedem Hören lieber gewinnt. Einen echten Hit gibt es zwar nicht, aber die Gesamt-Stimmung und -wirkung ist Top.
  ↑  Regina Spektor: Far (Sire/Warner) 26.6.2009
Die 29-jährige, gebürtige Russin siedelte Ende der 80er mit ihren Eltern nach New York über, wo sie eine klassische Klavier-Ausbildung erfuhr. Später kam sie in Kontakt zur Singer/Songwriter- und Anti-Folk-Szene der Stadt und begann eigene Songs zu schreiben, in denen sich sowohl ihre russisch-jüdischen Wurzeln als auch der bunte Kultur-Mix ihrer neuen Heimatstadt widerspiegelten. Nach 2 Alben, die sie Anfang des Jahrtausends in Eigenproduktion herausbrachte, kam sie über ihre Kontakte mit den Strokes zu einem Plattenvertrag mit Sire, auf dem sie nun ihr drittes Album veröffentlicht. Bereits mit dem Vorgängeralbum "Begin To Hope" (2006), aber auch dank gemeinsamer Touren mit den Kings of Leon hat sie sich inzwischen auch diesseits des Atlantiks einen guten Ruf erspielt. Der dürfte sich mit dem neuen Album verfestigen, das einen sympathischen, teilweise bezaubernden Indie-Pop bietet, der nicht zu kitschig, aber auch nicht zu avantgardistisch daherkommt, und bei dem das Piano und die ausdrucksstarke Stimme der zierlichen Sängerin im Vordergrund stehen. Die Stücke sind mal beschwingt, mal melancholisch, und erzählen leicht skurrile, mal zum Schmunzeln, mal zum Nachdenken anregende Geschichten.
  ↑  Speech Debelle: Speech Therapy (Big Dada) 29.5.2009
Die junge Rapperin aus London hat 5 Jahre an ihrem Debüt gebastelt, das nichts mit dem aus den Charts bekannten Rap zu tun hat, sondern eher in der Tradition von intelligenten, jazzigen Rap- und Spoken Words- Vertretern wie DJ Krush, Silent Poets, 4Hero und Roots Manuva steht. Letzterer ist denn auch an dem sehr schönen Stück "Wheels In Motion" mit beteiligt.
Im Gegensatz zum modernen Rap kommt ihre Musik fast ohne Samples, Scratches und elektronische Beats aus, stattdessen dominiert transparente Akustik aus Gitarre, Drums, Bläsern und Streichern. Die Stimmung wechselt zwischen ruhigeren, souligen Stücken und hibbeligeren mit abstrakten Beats. Mit ihrer mal warmen, mal kindlichen Stimme erzählt sie – oft ironische - Geschichten und Begebenheiten aus ihrem Leben.
Fans der oben genannten Bands sollten hier unbedingt mal reinhören.
  ↑  Babylon Circus: La belle etoile (Skycap) 30.4.2009
Kenner der seit 1995 bestehenden Band aus Lyon werden vielleicht etwas erstaunt sein, daß ich das Album dem Genre "Weltmusik" zugeordnet habe, denn bisher hat sie sich ja durch energiegeladene und politisch engagierte Ska’n’Reggae-Konzerte, u.a. auch auf dem Open Air am 13.5.2003 zwischen bc- und BD-Club in Ilmenau, eine weltweite Fangemeinde erspielt. Auf dem 4. Album der Band sind Ska’n’Reggae aber nur noch 2 Facetten von vielen. So mischen die 9 Musiker um die beiden Sänger und Bandgründer David Baruchel & Manuel Nectoux auf gekonnte und vergnügliche Weise noch Chanson, Jazz, Swing, Gypsy und Blues dazu, so daß ich das enstehende musikalische Gebräu nur als Weltmusik (im besten Sinne) bezeichnen kann. Zum Teil werden die Stile auch innerhalb eines Liedes vermischt, und passend dazu wechseln sich die beiden Sänger in Französisch und English ab.
Auffällig an der Entwicklung der Band ist auch, daß sich zwischen bzw. auch in die tanzbaren Stücke nachdenkliche und melancholische Töne einschieben, und es inhaltlich nicht mehr nur um Politik, sondern auch um das Leben an sich und die Liebe geht. Das mag mit dem nun gereifteren Alter der Musiker zu tun haben, aber auch damit, daß David 2007 nach einem Sturz im Anschluß an ein Konzert in Moskau 2 Wochen im Koma lag und anschließend an Sprachstörungen litt. Es ist also auch ein kleines Wunder, daß es diese Platte überhaupt gibt ...
  ↑  Rotfront: Emmigrantski Raggamuffin (Essay/Indigo) 5.6.2009
Nach Dancehall von Seeed, Multi-Kulti-Ska von Culcha Candela, der Russendisko und Shantel’s Balkan Beats mischen Rotfront das alles auf ihrem Debüt-Album nun gut durcheinander und laden zur ultimativen urbanen Multi-Kulti-Party ein.
Rotfront wurde 2003 gegründet und ist die Hausband des Berliner Kaffee Burger, wo ja auch die legendären Russendiskos stattfinden. Die beiden zentralen Figuren in dem wechselndem Musiker-Kollektiv sind Yuriy Gurzhy (von der Russendisko) und der Ungar Simon Wahorn. Zusammen mit den zahlreichen Mitstreitern zelebrieren sie eine wilde Mixtur aus Ska, Reggae, Dub, HipHop, Polka, Klezmer, Rock und Cumbia. Passend dazu auch ein Sprachgewirr aus Russisch, Ungarisch, Deutsch und Englisch bei den Texten, die vom Leben in der Großstadt Berlin handeln. RotFront !
  ↑  Jamie T: Kings & Queens (Virgin/EMI) 4.9.2009
Vor 2 Jahren erregte der inzwischen 23-jährige Brite mit einer wilden Mischung aus Rap, Ska, Punk und elektronischen Beats auf seinem Debüt "Panic Prevention" einiges Aufsehen. Das darauf enthaltene Stück "Salvador" war eines meiner persönlichen Hits des Jahres 2007.
Auch das vorliegende Album ist wieder ein wunderbar abwechslungsreicher Stil-Cocktail geworden. Zu den oben genannten Einflüssen gesellen sich nun noch Soul und Folk hinzu. Insgesamt kommt es deutlich reifer und weniger ungestüm als das Debüt herüber, zeichnet sich aber immer noch durch eine sympathische Schnoddrigkeit aus. Zwar ist es zugänglicher, besitzt aber noch genug Ecken und Kanten, so dass es sich vollständig erst nach mehrmaligem Hören erschliesst.
Bis auf die für mich etwas schwache zweite Single "Chaka Demus" ein durchweg gelungenes Album. Meine Favoriten: "Hocus Pocus", "Castro Dies" und "Earth, Wind & Fire", das mit einem Sample von Joan Baez’ "Queen of Hearts" beginnt.
  ↑  Laurent Garnier: Tales Of The Kleptomaniac (PIAS) 8.5.2009
Zugegeben, den 43-jährigen französischen DJ und Musikproduzent, der sich seine ersten Lorbeeren als DJ Ende der 80er im legendären Hacienda Club in Manchester verdiente, kannte ich bisher mehr vom Hörensagen und hatte ihn so in die Techno- und House-Ecke gesteckt. Dass man ihn aber keineswegs darauf festlegen kann, beweist er eindrucksvoll mit seinem 5. Studioalbum, denn darauf fusioniert er die elektronischen Spielarten House, Techno und Drum’n’Bass ohne Scheuklappen mit Jazz, Soul, Chanson, Dub, Rap und TripHop. Das ist nur selten straight-to-the-dancefloor, sondern auch experimentell, fiebrig, hypnotisch und relaxt groovend.
Beim Hören des Albums spürt man förmlich den Puls der nächtlichen Großstadt. Schön ist auch, dass das Album mit satten und niemals langweiligen 75 Minuten das CD-Format voll auschöpft.
Eine echte Überraschung und Entdeckung für mich ...
  ↑  Moderat: Moderat (BPitch Control) 8.5.2009
Moderat ist sowas wie die Supergroup der Berliner Elektronik-Szene, denn es ist das gemeinsame Projekt von Modeselektor (Sebastian Szary & Gernot Bronsert) und Apparat (Sascha Ring). Kennengelernt hat man sich Anfang des Jahrtausends durch die Arbeit für Ellen Allien’s Label BPitch Control. 2002 erschien bereits eine gemeinsame EP namens "Auf Kosten der Gesundheit", aber erst jetzt das Debüt-Album. Der Projektname ist darauf Programm, denn man trifft sich stilistisch ziemlich genau zwischen den beiden Polen elektronischer Musik, für die die beiden beteiligten Projekte sonst stehen: dem energetischen Rave-Electro-Techno von Modeselektor und den introvertierteren Elektronica-Sounds von Apparat. So sind die Stücke auch weniger zum Abtanzen geeignet, sondern eher zum gepflegten Abhängen. Sehr schön ist der ausgeprägte Dubstep-Anteil, der dem Album seine besondere Note verleiht. Ein paar Stellen erinnern z.B. an das wegweisende Debüt von Burial. Ein weiterer Bezugspunkt ist die experimentelle Elektronik, die z.B. die letzten Arbeiten von Radiohead auszeichnet. Mit derem Sänger Thom Yorke sind denn die 3 Musiker auch in Freundschaft verbunden, und Sascha Ring, der auf 2 Stücken singt, kann sogar eine stimmliche Ähnlichkeit mit ihm vorweisen.

Ein Electronica-Highligt der Jahres!

  ↑  Air: Love 2 (Aircheology/Virgin/EMI) 2.10.2009
Nach dem eher zurückhaltenden Vorgänger "Pocket Symphony" (2007) macht das französische Duo Dunckel/Godin seinem Namen wieder Ehre und kehrt auf dem vorliegenden 5. Studioalbum zurück zu dem luftigen Sound des Debüts "Moon Safari" (1998), und beweist einmal mehr sein feines Gespür für federleichte Arrangements. Wie damals auch ist das eine Gratwanderung zwischen Kunst und Kitsch, die ihnen über weite Strecken gut gelingt. Positiv fallen neue Facetten in ihrem Soundkosmos auf, inbesondere Rock- und Surfgitarren hier und da, aber auch hippieske und psychedelische Momente und eine Brise Funk und Afro Beats. Unterstützt werden sie dabei durch den Drummer Joey Waronker, der sie auch schon auf ihrer letzten Live-Tour begleitet hat.