Lauschbar 45 14. Juni 2009

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17 Hippies: El Dorado (Hipster/Soulfood) 30.1.2009
Das 1995 gegründete und derzeit aus 13 Mitgliedern bestehende Berliner Kollektiv bietet auf seinem drittem Studioalbum die schon von den Vorgängern her bekannte, mal mitreißende, mal ergreifende Vermischung aller möglichen Stile: Balkan-Folklore, Chanson, Cajun, Mariachi, Polka u.v.m.
Abgesehen von den instrumentalen Stücken singen die sich abwechselnden weiblichen und männlichen SängerInnen auf Deutsch, Englisch, Französisch und sogar auf einem südhessischen Dialekt, was die WeltOffenheit der Hippies unterstreicht.
Noch mehr als auf den bisherigen Alben fusionieren sie die Stile auch innerhalb einzelner Lieder. So ist z.B. "Six Green Bottles" ein lustiger Bastard aus Balkan-Pop, Fiddle Folk und Dixieland.
  ↑  Peter Doherty: Grace/Wastelands (Parlophone/EMI) 13.3.2009
Zuerst hatte ich gar nicht vor, in das erste Solo-Album des ehemaligen Sängers von den Libertines und den Babyshambles reinzuhören, denn den Hype um die beiden Bands konnte ich nie ganz nachvollziehen, und ansonsten machte er ja eher durch Drogen-Eskapaden, Gefängnisaufenthalte und Affären mit Kate Moss und Amy Winehouse von sich reden. Letztlich überwiegte jedoch die Neugier ... und die hat mir doch eine schöne Überraschung beschert, denn der gerade 30 Jahre alt gewordene Musiker liefert ein richtig gutes, vielschichtiges und reifes Album ab, auf dem wohl erstmals sein ganzes Talent als Songschreiber voll zum Tragen kommt. (Offenbar haben sich die Entziehungskuren der letzten beiden Jahre ausgezahlt.)
Im Gegensatz zum eher lauten Indie-Rock seiner bisherigen Bands, lässt er es hier eher ruhig und behutsam in Singer/Songwriter-Manier angehen. Die Songs sind zum größeren Teil schlicht, aber intelligent instrumentiert, und lassen so Raum für seine ergreifenden Geschichten. Für Abwechslung sorgen gelegentliche Ausflüge in üppigeren 60ies-Retro-Pop (a la Last Shadow Puppets), Bar Jazz und Folk Rock.
Unterstützt wird er u.a. von seinen Bandkollegen von den Babyshambles sowie dem Gitarristen von Blur, Graham Coxon.
  ↑  Placebo: Battle For The Sun (PIAS) 5.6.2009
Nach Entfremdungserscheinungen während der Tour zum letzten Album "Meds" (2006) trennte man sich vom langjährigen Drummer Steve Hewitt. Dessen Platz nimmt nun Jungspund Steve Forrest ein, und der bringt ein wenig frischen Wind. Das 6. Album des britischen Trios rockt mehr als die Vorgänger und es gibt weniger elektronische Spielereien.
Ein solides, melodramatisches Gitarrenrock-Album, das nicht an ihr bislang bestes, "Sleeping With Ghosts" (2003, s. Archiv) herankommt.
  ↑  Birdpen: On/Off/Safety/Danger (Les Oreilles Bleues/Alive) 27.3.2009
Birdpen ist ein seit 2003 bestehendes britisches Projekt um die beiden Namensgeber Mike Bird und Dave Pen, die auch an dem letzten und aktuellen Album von Archive (s. Review-Archiv) mitgewirkt haben. Es verwundert dann auch nicht, wenn ihr Debüt vor allem Assoziationen mit Archive hervorruft. Auch Birdpen verstehen es, vielschichtige und faszinierende, mehr oder weniger düstere Kompositionen hinzuzaubern, von kurzen Soundcollagen über griffige Songs bis zu 8-minütigen Epen.
Anders als Archive sind Birdpen aber weniger dem TripHop, sondern mehr dem Rock im breiten Spektrum von Prog (Pink Floyd), Post (Mogwai) und Alternative (Dredg) zugeneigt.
  ↑  From Monument To Masses: On Little Known Frequencies (Golden Antenna) 13.3.2009
Danke an das Visions-Magazin für die Empfehlung dieses hervorragenden Albums, das dritte des seit 2000 bestehenden, kalifornischen Trios. Für mich stellt das Album eine (fast) perfekte Verkörperung von progressivem Rock auf der Höhe der Zeit dar. Das "progessiv" ist hierbei sowohl musikalisch-stilistisch, als auch inhaltlich gemeint. Stilistisch, indem sie in bester Post- und Prog-Rock-Manier ihren Stücken (meistens jenseits der 5-Minuten-Marke) abwechslungs- und facettenreiche Kompositionen verpassen, dabei auch modernes elektronisches und digitales Equipment einsetzen, und auch keine Scheuklappen vor Berührungen mit anderen Genres haben (wie z.B. in "The First Five" mit Rap). Inhaltlich, indem sie ihre anti-imperialistischen und globalisierungskritischen Ansichten transportieren, allerdings nicht etwa in Form von agitatorischen Lyrics, sondern über geschickt eingebaute Medien-Samples. So ist z.B. in "An Ounce Of Prevention" Mario Savio zu hören, der Anfang der 60er die Studentenproteste an der Universität Berkeley anführte. Das Ganze ist auf der einen Seite zwar durchaus anspruchsvoll, auf der anderen Seite aber immer auch ein- und zugängig, zum Teil auch mit sehr groovigen Passagen.
  ↑  Archive: Controlling Crowds (Warner) 22.5.2009
Fast genau 3 Jahre nach "Lights" (s. Review-Archiv) legen die britischen Artrocker um Darius Keeler und Danny Griffiths nun ihr mittlerweile 6. Album vor – und das hat es mächtig in sich: ein monumentales Werk mit satten 78 Minuten Länge. Konzeptionell ist es als musikalisches Drama in 3 Akten über den Zustand der Welt und der Gesellschaft angelegt. Stilistisch enthält es alle Trademarks, die die Fans der Band inzwischen lieben gelernt haben, also den genre-übergreifenden Mix aus Progressive Rock, Trip Hop, Electronica und Industrial, wobei das Pendel auf diesem Album wieder mehr in Richtung Trip Hop ausschlägt. Dazu passt auch, dass Rapper Rosko John, der am hervorragenden 96er Debüt "Londinium" mitwirkte, wieder mit dabei ist (neben den bereits vom Vorgänger-Album bekannten 3 SängerInnen).
Manche Kritiker bemängeln die (angeblich nicht passenden) Raps oder eine Über-Ambitioniertheit des Album. Ich kann das nicht nachvollziehen. Gerade die Raps passen sich sehr gut ins Gesamtbild ein. Bemängeln würde ich eher den nicht immer überzeugenden Gesang und ein gewisse Ermüdungserscheinung zum Ende des Albums hin.
  ↑  Der Tante Renate: Splitter (Audiolith) 13.3.2009
Vor anderthalb Jahren war ich zum ersten Mal auf den Hamburger Norman Kolodziej alias Der Tante Renate aufmerksam geworden, als er zusammen mit Kevin Hamann alias ClickClickDecker das Debüt des Duo-Projektes Bratze veröffentlichte (s.Archiv). Später hatte ich dann auch mal in sein 2. Soloalbum „Simplex" (2007) reingehört, was mich bis auf 3-4 Stücke aber nicht so vom Hocker gerissen hat. Mit dem nun vorliegenden 3. Album ist das jetzt ganz anders, denn es besitzt durchgehend Klasse: schweißtreibender Rave-Electro, der einen unwillkürlich zum Tanzen animiert (bis auf den eher atmosphärischen Abschlusstrack). Vergleiche mit Größen wie Digitalism oder Justice sind möglich, "Splitter" hebt sich von diesen aber etwas durch seinen angenehm rotzigen Rock-Appeal ab. Und im Rahmen des Genres ist das Album sogar abwechslungsreich mit Spannungsbögen und einfallsreichen Melodien.
  ↑  Mongrel: Better Than Heavy (Wall Of Sound/PIAS) 13.3.2009
"The aim of Mongrel first & foremost was to bring people together ... this album is a testament to the fact that we have much more common than not." (Aus dem Album-Booklet.)
Der Projektname (auf deutsch etwa "Promenadenmischung") passt ganz gut sowohl zum inhaltlichen Anliegen (s. Zitat oben) als auch zum musikalischen Ansatz, der darin besteht, möglichst viele Stile zu mischen, teils auch in einem Song. So reicht die Palette auf dem Album von Rap, Dub und Reggae über Elektro bis zum Rock, wobei der Anteil von Rap und Dub überwiegt. Die Rap-lastigen Stücke sind mal fiebrig-elektrifiziert im Stile einer Lady Sovereign, mal dem Crossover a la Public Enemy zugeneigt. Daneben stehen die eher relaxt daher kommenden, dub-lastigen Stücke, bei denen Assoziationen zu den Gorillaz wach werden.
Diese Stilistik ist etwas überraschend, wenn man weiß, dass das Projekt 2008 von Mitgliedern diverser UK-Indie-Rock-Bands (u.a. Artic Monkeys und Reverend and The Makers) ins Leben gerufen wurde. Auf dem Album werden sie gemäß dem eingangs zitierten Ansatz von zahlreichen SängerInnen und RapperInnnen unterstützt. Die politisch engagierten Lyrics behandeln soziale Mißstände, Rassismus, Überwachungsparanoia und die oberflächliche Musikindustrie im aktuellen Großbritannien.
  ↑  Astronautalis: Pomegranate (Eyeball) 13.3.2009
Astronautalis ist das Projekt des aus Florida stammenden Rappers und Songwriters Andy Bothwell. "Pomegranate" ist bereits sein drittes Album (seit 2003), aber das erste, das außerhalb der USA erscheint. Und es wäre wirklich schade gewesen, wenn es nicht auch hierzulande vertrieben worden wäre, denn es bietet eine herrlich kauzige Mischung aus Rap, Folk und Indie-Rock.
Das Album enthält 2 Kategorien von Songs: Zum einen ruhigere Folk-Songs, die stimmungsvoll mit Streichern und Bläsern untermalt sind, und in denen Bothwell eher singt denn rappt, mit einer stark an Tom Waits erinnernden Stimme. Zum anderen sind da richtig gut groovende und rollende Indie-Rock-HipHop-Bastarde. In manchen Songs kommen auch beide Seiten zum Tragen, z.B. in "Mr. Blessingtons Imperialist Plan".
In seiner zum Mainstream-Rap völlig alternativen, und die Grenzen des Raps aufbrechenden Herangehensweise befindet er sich in guter Gesellschaft mit den progressiven Projekten des Anticon-Labels.
Inhaltlich beschäftigen sich die Songs mit diversen Episoden aus der US-amerikanischen Geschichte. Da fehlt uns Europäern vielleicht etwas der Hintergrund, aber das ist bei der Klasse der Musik nur zweitrangig...
  ↑  Fever Ray: Fever Ray (Rabid/V2) 27.3.2009
Fever Ray ist das Solo-Projekt der Schwedin Karin Dreijer Andersson, der einem oder dem anderen auch bekannt als eine Hälfte des Electro-Duos The Knife (zusammen mit ihrem Bruder Olof). Nach derem letzten Album "Silent Shout" 2006 nahm sich das Duo eine Auszeit, was Karin zur Arbeit an eigenen Songs und zu diversen Kollaborationen nutzte. (So ist sie z.B. auch auf 2 Songs auf dem aktuellen Album "Junior" von Röyksopp zu hören.)
Auf ihrem Solo-Debüt erschafft Karin nun schaurig-schöne und gespenstische Soundscapes aus sanft wabernden Synthi-Flächen und mehr oder weniger vertrackten Computer-Drum-Beats, in die sich da mal ein Gitarrenriff, hier psychedelischer Schnickschnack und dort orientalische Ornamentik einbettet. Nicht zuletzt lebt das Album aber von ihrer expressiven, teils stark Effekt-verfremdeten Stimme, die mich in ihrem Gestus zuweilen an Björk erinnert.
  ↑  Röyksopp: Junior (Wall Of Sound/EMI) 20.3.2009
Röyksopp Goes Disco! Nachdem das norwegische Duo auf den beiden ersten Alben "Melody A.M." (2001), dank dem darauf befindlichen Stück "Eple" das Duo einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erfuhr, und "The Understanding" (2005) eher das Downbeat/Chilout-Feld beackert und bereichert haben, ziehen sie auf dem vorliegenden dritten (international erschienenen) Album das Tempo deutlich an und zaubern ein paar Dancefloor- taugliche Elektro-Pop-Nummern aus dem Ärmel, die den Geist Anfang der 80er atmen (Vangelis, Giorgio Moroder). Dank der knackigen Produktion hat das Album aber auch sein Bein im Jetzt.
Als Gastsängerinnen sind dabei: Lykke Li, Robyn, Karin Dreijer Andersson (von The Knife/Fever Ray) und Anneli Drecker (von Bel Canto).
Das Album hinterläßt einen etwas zwiespältigen Eindruck. Es hat durchaus Charme, eingängige Melodien und interessante elektronische Effekte, gerät zuweilen aber doch zu poppig und kitschig. So klingt z.B. "The Girl And The Robot" wie ein etwas knarzig ge- ratenes Lied von Kylie Minogue. Fans der ersten Stunde werden wohl etwas enttäuscht sein ...
  ↑  Jon Hassell: Last Night The Moon ... (ECM) 20.3.2009
Der 72-jährige, US-amerikanische Jazz-Trompeter hat sich seit Anfang der 70er durch seine innovativen akustischen u. elektronischen Veränderungen des Trompetenklangs einen Namen gemacht und war damit Vorbild für jüngere Jazz- Musiker wie Nils Petter Molvaer. Bekannt wurde er auch mit seiner Fusion des Jazz mit Weltmusik u. modernen elektronischen Sounds.
Die Stücke auf dem aktuellen Album fließen alle sehr langsam dahin. Als Normal-Zuhörer muß man sich erst darauf einschwingen, um die subtilen Klangfarben genießen zu können.